Die Abschiebungen nach Kroatien und Bulgarien müssen sofort gestoppt werden, findet die Aktivistin Anni Lanz in ihrer Kolumne. Sonst ergehe es den Geflüchteten wie ihrem Bekannten Ahmed.
Die Angst ist Ahmed in die Knochen gefahren und steckt dort unwiderruflich fest. Die Angst, von der Fremdenpolizei aufgegriffen, in Handschellen gelegt und nach Bulgarien abgeschoben zu werden.
Obwohl die Überstellungsfrist des jungen Afghanenistani abgelaufen ist und er daher nicht mehr nach Bulgarien abgeschoben werden kann, fragt er mich unablässig, ob die Polizei ihn nicht doch noch fassen werde und in das Land spediere, wo er erstmals seine Fingerabdrücke hinterlassen habe.
Ahmed ist ein «Dubliner», der den strengen Regeln des Schengener Abschiebesystems unterworfen ist. Hält sich die Schweizer Behörde nicht an die Abschiebe-Fristen, muss sie selbst das Asylverfahren durchführen. Für Ahmed ist es jetzt so weit, auch wenn er es noch nicht realisiert hat: Er ist vorläufig gerettet.
Das Schengener System mit der Dublin-Verordnung beruht auf einer strikten Kontrolle der EU-Aussengrenzen, die es, entgegen den Beteuerungen der Justizbehörden auf allen Ebenen, verhindert, dass Asylsuchende zu ihren Asylgründen angehört werden. Obwohl das Recht, ein Asylgesuch zu stellen und dazu angehört zu werden, zwingendes Völkerrecht ist, verletzen es die Schengenstaaten gemäss Recherchen von verschiedenen Medien, vor allem diejenigen an der EU-Aussengrenze, in gravierendem Masse. Wir Menschenrechtsaktivist*innen haben dies anlässlich der Abstimmung zur Frontex-Grenzbehörde im vergangenen Mai betont.
Aber auch die Schweiz nimmt es mit den Dublin-Verordnung zuweilen nicht so genau und winkt die Asylsuchenden einfach durch – in die Nachbarländer. Das Schweizer Staatssekretariat für Migration (SEM) sieht keine Rechtsgrundlage, diese Menschen festzuhalten.
Das hat zur Folge, dass die Asylsuchenden nirgendwo ankommen und in einer Kettenabschiebung in das Herkunftsland abgeschoben werden, ohne dass sie je ihre Asylgründe vortragen können.
Auch die Schweiz schiebt die Geflüchteten nach Bulgarien und Kroatien ab, weil diese sich vertraglich dazu verpflichtet hätten. Neuerdings weigert sich der Schengenstaat Italien, «Dubliner» zurückzunehmen.
Eine Rückschiebung nach Bulgarien drohte auch Ahmed. Vier Mal versuchte er von der Türkei in den Schengenraum zu gelangen, zuerst drei Mal nach Bulgarien, dann nach Griechenland.
Dabei habe er immer wieder Freunde verloren, erzählt er mir. Auf türkischer Seite ist die Fluchtgruppe mit einer Leiter auf den Grenzzaun gestiegen. Beim Absprung aus 5 Meter Höhe ins bulgarische Territorium habe sich der Freund tödliche innere Verletzungen zugezogen. Bei der Vertreibung an der griechischen Grenze seien mehrere Freunde in einem grossen Fluss ertrunken, erzählt Ahmed. Sie seien vom Grenzschutz gejagt worden, ohne dass sie sich gegenseitig an den Händen halten durften.
Eine grosse Wunde trug Ahmed laut eigenen Schilderungen von den vielen Stockschlägen dieser Behörde und auch privaten Milizen davon. Freunde seien von Hunden gebissen worden. Als besonders verletzend und demütigend empfand Ahmed die völlige Entkleidung vor dem Grenzzaun auf bulgarischer Seite. Splitternackt und ohne Schuhe seien die Flüchtenden von der bulgarischen Polizei durch ein Grenztor in die Türkei zurückgetrieben worden, sagt er mir.
Völlig entblösst hätten sie durch steiniges Gebiet laufen müssen, stets auf der Hut, nicht aufgegriffen zu werden. Denn die Türkei würde sie den Taliban in Afghanistan ausliefern, Human Rights Watch berichtete von solchen Fällen. Der letzte und fünfte Versuch nach Bulgarien war erfolgreicher. Um ein Asylverfahren zu erhalten, zog Ahmed weiter bis in die Schweiz.
Ahmed ist noch einmal davongekommen. Aber unzähligen anderen Flüchtenden, auch Frauen mit Kindern, droht die Abschiebung in die Schengener Randstaaten wie Bulgarien oder Kroatien, obwohl sie dort eine unmenschliche Behandlung erwartet. Dies ist hinlänglich bekannt – auch die Migrationsbehörden müssen davon wissen. Es gibt zahlreiche Berichte dazu, u.a. der Schweizer Flüchtlingshilfe und von Solidarité sans frontières. Die Basler GLP-Nationalrätin, Katja Christ, hat zu den Rückführungen nach Kroatien und Bulgarien eine Interpellation eingereicht. Solidarité sans frontières und Westschweizer Gruppen sammeln Petitionsunterschriften gegen die Rückführungen nach Kroatien, die am 14. Dezember 2022 beim Bundeshaus überreicht werden.
Mein Fazit: Die Abschiebungen nach Kroatien und Bulgarien müssen sofort gestoppt werden.