Die Schweizer Politik verletzt häufig die Menschenwürde von Geflüchteten, ist Anni Lanz überzeugt. Es brauche Mut und Selbstwertgefühl, sich aktiv gegen Menschenrechtsverletzungen zu wehren.
Anni Lanz
Ich liebe Tischgespräche mit interessanten Gästen. Dafür koche ich beschwingt und herzhaft. Da war die kleine Tischrunde mit einer Iranerin, Sara, und Ahmad, einem Mann aus Afghanistan, beide sehr würdevolle Persönlichkeiten. Sie erzählten von ihren Erfahrungen mit Rassismus. Da lohnt sich das Zuhören, denn was Verletzung der Würde heisst, wissen die Diskriminierten am besten. Die Betroffenen, und nicht die Juristen oder wir Wohlbehüteten, sind hier die Expertinnen.
Sara, die eine steile Karriere im Gesundheitswesen hingelegt hat, schilderte, wie Patienten sie beleidigt haben. Ein alter Mann hatte sie sogar ins Gesicht geschlagen, weil er Migrantinnen nicht leiden konnte. Trotzdem hat sie ihm, als er einsam starb, die Hand gehalten und ihn mit Zuwendung in den Tod begleitet. Das rief bei Ahmad heftige Gegenreaktionen hervor: Es sei ihm wichtig, auf rassistische Angriffe unmittelbar zu reagieren, damit sich die Diskriminierenden in ihrem herabsetzenden Verhalten nicht bestärkt fühlten. Einig waren sich aber die beiden, dass es nicht einfach sei, stets angemessen zu reagieren.
Menschenwürde ist mehr als ein juristischer Begriff. Ihre revolutionäre Definition stammt vom Philosophen Immanuel Kant. Er sah die Würde als eine angeborene Eigenschaft aller Menschen und setzte den Menschen als Zweck an sich. Das schliesst jegliche Instrumentalisierung des Menschen für Ideologien, Massnahmen und Herrschaft etc. kategorisch aus: «Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel brauchest.» Das setzt allseitig einen starken Willen und ein ebenso starkes Selbstwertgefühl voraus.
Gemäss unserer Bundesverfassung Art. 7 ist die Würde des Menschen «zu achten und zu schützen». Die Würde «anzutasten» (so der Begriff im deutschen Grundgesetz) oder gar, sie zu brechen, gehört als Vorgang zu Unterdrückung oder Rassismus. Sie ist eine Massnahme der Machtausübung.
«Wer geschlagen wird, hält die andere Backe hin. Das ist kein Zeichen von Unterordnung, sondern das Gegenteil.»
Wie aber kann oder soll eine betroffene Person reagieren, wenn ihre Würde angetastet wird? Wer sich der Macht nicht fügen will, so die Haltung von Sara, lässt sich durch Erniedrigung eines Rassisten oder einer Rassistin nicht entwürdigen, nicht verletzen. Wer geschlagen wird, hält die andere Backe hin. Dies ist kein Zeichen von Unterordnung und Schüchternheit, sondern das Gegenteil.
Die Menschenrechte räumen der Würde jedes Menschen eine zentrale Rolle ein – so in der allgemeinen Menschenrechtserklärung in Art. 1 und in der Europäischen Menschrechtskonvention, Art. 3. 46 europäische Länder haben die Menschenrechtskonvention ratifiziert.
Doch sie werten ihre Staatssouveränität gegenüber Ausländer*innen höher als deren Menschenwürde. In den Gerichtsurteilen heisst es dann, dass die Verhältnismässigkeit zwischen dem staatlichen Souveränitätsrecht und der Würde von Ausländer*innen auch mit den jeweiligen Zwangsmassnahmen gewahrt sei. So gilt monatelange Inhaftierung wegen fehlender Aufenthaltsgenehmigung den Richtenden als verhältnismässig, wenn Ausländer ohne Aufenthaltsbewilligung bei ihrer Ausschaffung nicht mithelfen.
Dabei ist ein solcher Freiheitsentzug wie bei einem Schwerkriminellen ein entwürdigender Eingriff in die Selbstbestimmungsrechte von Sans-Papiers und Weggewiesenen. So jedenfalls empfinden es die Insassen, wie wir bei unseren Gefängnisbesuchen erfahren. Es war die Absicht der Gesetzgebenden, deren Haltung und Widerstand zu brechen, insbesondere mit der Einführung der Durchsetzungshaft, einer modernen Form von Beugehaft (Art. 78 AIG).
«Alle wissen, dass man mit 56 Franken pro Woche kein menschenwürdiges Leben führen kann.»
Es gibt noch viele gesetzlich festgehaltene Massnahmen gegenüber Abgewiesenen, welche nach Empfinden der Betroffenen die Menschenwürde schmerzhaft verletzen, so wie etwa die behördliche Kontrolle und die Erzwingung von Lebensbedingungen, die weit unter dem landesüblichen Existenzminimum liegen. Alle wissen, dass man in unserem Land mit 56 Franken in der Woche kein menschenwürdiges Leben führen kann. Und trotzdem wird es den Abgewiesenen zum Teil über Jahre zugemutet.
Verletzend sind auch ganz alltägliche Verhal tensweisen gegenüber Geflüchteten, wie die bohrende Neugier von Gutmeinenden auf das Privatleben und die Fluchtgründe der Schutzsuchenden. Diese möchten nicht ohne Weiteres ihre intimen, oft auch erniedrigenden Erfahrungen preisgeben, wie es ja bereits in der behördlichen Asylbefragung erwartet wurde. Zudem ist nicht auszuschliessen, dass geheimdienstliche Ohren ein Interesse an den Antworten haben. Auch Geflüchtete haben ein Recht auf Verschwiegenheit.
Es braucht aktive Zivilcourage, um die Menschenwürde von Migrant*innen zu schützen. Dazu zitiere ich Shams Feruten, ein Betroffener und Experte in der Rassismusfrage: «Die Antithese zum Rassismus ist nicht nicht-rassistisch, sondern antirassistisch zu handeln.
Was ist der Unterschied zwischen den beiden?
Ein Rassist glaubt, dass Probleme in der Natur einer Gruppe von Menschen verwurzelt sind. Ein Antirassist glaubt dagegen, dass die Wurzeln der Probleme der Menschen in den Machtverhältnissen und der aktuellen Politik gesucht werden sollten. Ein Rassist hält aktiv oder durch Gleichgültigkeit rassistische Ungleichheiten aufrecht, ein Antirassist wirkt aktiv diesen Ungleichheiten entgegen.» Antirassismus fordert uns gehörig.