Kolumnistin Anni Lanz kämpft seit Jahrzehnten für die Rechte geflüchteter Menschen. Für sie fühlt es sich manchmal wie ein kompliziertes Schachspiel an, bei dem jeder einzelne Zug genau durchdacht werden muss.
An Silvester besuchte mich Ahmad, mein frisch eingereister «Wunschenkel». Weil wir uns bloss behelfsmässig auf Türkisch unterhalten konnten – er kommt aus Afghanistan und lernte Türkisch auf seiner Flucht – spielten wir Schach. Das hatte ich als Teenager zum letzten Mal gespielt und Ahmad erlernte es bei mir auf Anhieb.
Beim Spielen ist mir bewusst geworden, dass ich während meines Jahrzehnte dauernden Engagements im Migrationsbereich eine Art Schach gespielt habe. Auch dort gilt: Man muss die Regeln kennen, vorausschauend seine Figuren schützen und stärken sowie die Strategie des Gegenspielers frühzeitig erkennen und durchkreuzen. Schach und nochmals Schach!
Zur Person
Anni Lanz ist selbst ernannte Menschenrechtsaktivistin im Solinetz Basel. Seit fast 40 Jahren setzt sie sich für Geflüchtete und ihre Rechte ein. In ihrer Kolumne versucht sie ihnen eine öffentliche Stimme zu geben.
Ich bin kein Profi, auch nicht als Flüchtlingsberaterin. Ich kann mich nicht abgrenzen, ich liebe die Ratsuchenden, wenn sie mir ihr Vertrauen schenken. Ich liebe also meine Springerinnen, Pferdchen und Türme und ich opfere auch nicht leichtfertig die Bauern. Kann man mit so viel Gefühl Schach spielen? Ich muss, aber eine gute Strategin braucht auch einen kühlen Kopf.
Zuerst also alles auf die Reihe bringen, Vereinsarbeit, Spenden verdanken, Abrechnungen machen, die Figuren ordnungsgemäss aufstellen. Dann folgt der erste Zug meines schwarzen Bauern. Das heisst, die junge Frau aus Togo zu einem Deutschkurs zu bewegen und damit ihre Startchancen verbessern, denn sie wurde von ihrem Ehemann, der sie hierher brachte, sitzen gelassen. Schon droht der Gegenspieler mit ihrem Aufenthaltsentzug.
Wir planen eine Weiterbildung, eine Berufskarriere in der Pflege, was ihre Position deutlich stärkt. Mit guten Deutschkenntnissen hat sie mehrere Springeroptionen. Gleichzeitig muss ich mein Pferdchen schützen. Der junge Kurde ist mit einem negativen Entscheid belastet und wird von den weissen Türmen des Gegenspielers bedroht, der ohnehin viel mehr Figuren ins Spiel bringen kann. Und wie den psychisch kranken Iraner vor einem Angriff schützen, ohne meinen König zu gefährden? Muss meine Königin den weissen König mit Schach angreifen und dabei mein Pferdchen aufs Spiel setzen?
Angriff ist in diesem Fall nicht die beste Verteidigung, denn ich brauche den Goodwill meines Gegenspielers für die Bewegung meines zweiten Pferdchens, ein ähnlicher Fall. Ich versuch’s mit einem Gesprächsangebot statt mit einem Schlagabtausch und rücke einen anderen Boten vor.
Das Problem bei diesem nie endenden Spiel ist, dass sich die Regeln zu Ungunsten meiner Figuren dauernd ändern, und dass die Gegenseite über viel mehr Macht verfügt. Keine gute Voraussetzung für ein Fairplay. Ich jedoch leide mit meinen Figuren, als ob es um meinen eigenen Kopf ginge, freue mich aber unbändig, wenn uns ein guter Zug gelungen ist.
Ich weiss, es ist problematisch, Menschen mit Schachfiguren zu vergleichen. Die lebendigen Personen, mit denen ich Strategien aushecke, um mehr Würde einzufordern, überraschen mich fortwährend mit neuen Charakterzügen und Bewegungen. Ich will sie nicht manipulieren wie Spielfiguren. Aber ohne Kenntnisse der ausländerrechtlichen Spielregeln und ohne zukunftsgerichtete Strategien sind wir schachmatt, bevor das Spiel begonnen hat.